Quelle: DIE ZEIT
Ein Bild für die Götter
Im südindischen Staat Tamil Nadu zeigt sich der Hinduismus von
seiner prächtigsten Seite. Tempel ragen wie Wolkenkratzer in den Himmel, Händler
verkaufen Präsentkörbe zum Opfern, und ein Elefant spendet Rüsselsegen.
Von Cosima Schmitt
Die Braut ist rank, ein Quell der jungen Triebe. Ihr Gatte kauert im Ufersand. Er bekränzt ihre Blätter mit
duftendem Jasmin. Windet einen Seidensari um den zierlichen Stamm. Dann wetzt er
die Sichel und vierteilt die Gattin. Die Bananenstaude endet im Sand, verdorrt
unter Palmen in der Pilgerstätte Amma Manda Pam. Überlistet ist das Schicksal,
erfüllt die Prophezeiung, die dem Jüngling weissagte: Deine erste Frau wird früh
sterben, erst mit der zweiten findest du das Eheglück.
Mann freit Staude, das ist Hindualltag im Bundesstaat Tamil Nadu, wo Südindien an den Golf
von Bengalen grenzt. Hier erfrischen sich Großstadtinder in der Meeresbrise.
Mangohaine grünen neben Teeplantagen. Und dicht an dicht ballt sich die sakrale
Pracht: Tempel, so hoch wie Wolkenkratzer, mit Pyramidendächern, die ein
Figurenheer ziert. Der größte findet sich im Städtchen Srirangam. Sieben Mauern
umhüllen die heiligen Hallen, 21 Türme ragen empor.
Ein Sandalen-Sammelsurium flankiert die Eingangspforte. Heiligen Boden betritt der
Gläubige barfuß. Zwar ist der Haupttempel noch verriegelt. Doch in den Vorhallen
tost schon der Trubel: Männer blasen Tröten und hämmern auf Trommeln. Der Gott
soll erwachen, sonst verpasst er das Ritual. Vor einer Garküche lagern Frauen
und stärken sich fürs Gebet. Sie dippen Reisbällchen in Minzjogurt, tauchen
Weizenfladen in Gemüsecurry, serviert auf einem Bananenblatt, dem indischen
Einwegteller.
Srirangams Raghanatha-Tempel, das ist ein architektonisches Wirrwarr. Die ältesten Bauten sind 1500, die jüngsten erst 18
Jahre alt. In Säulen und Wände gemeißelt, offenbart sich die Hinduwelt: Krishna,
der badenden Frauen die Saris stibitzt. Oder Vishnu, der die Flöte bläst,
umgarnt von barbusigen Tänzerinnen. Inmitten der Pfeiler und Götterreliefs haben
Händler ihre Stände aufgebaut. Unter Plastikplanen bieten sie Opfergaben feil:
An Kordeln baumeln Bettchen im Puppenhausformat. Frauen hängen sie an die
Tempelbäume, um dem Kindersegen nachzuhelfen. Andere Göttergaben sind in
Flechtkörbchen drapiert. Blütenblätter liegen neben Bananen, Räucherstäbchen und
einer Kokosnuss. Nur ein paar Rupien kostet der Präsentkorb für die Götter.
Hindu sein, das prägt das Leben im Städtchen. Fast jeder schaut täglich
beim Tempel vorbei. Selbst Tiere stehen in göttlichen Diensten. In den
Altstadtgassen etwa wohnt der Tempelelefant – eine Eisenkette am Bein, ein Mahl
aus Palmblättern vor den Füßen. Ein Elefant gilt als zeremonientauglich. Er ist
stark und unter Göttern als Reittier beliebt. So trägt die Dickhäuterdame
feiertags Götterbilder durch die Straßen. Heute aber erteilt sie den
Rüsselsegen: Sie streicht dem Besucher über die Stirn und streift ihm eine
Blütenkette über den Kopf. Der Tempel allein könnte sie nicht ernähren, daher
segnet sie jeden, der ihrem Halter ein Geldstück reicht.
Vom Glauben zu leben, das fällt hier selbst den Priestern schwer. Manche salben nur frühmorgens
Götterfiguren. Dann fahren sie ins Büro, tupfen heilige Asche auf ihre Computer
und arbeiten als IT-Ingenieure. Denn so religiös die Tamilen sind – nicht jeder
beugt sich der Priesterkaste. Der Hinduismus erlässt kein Dogma, was die wahre
Lehre sei, und fügt nicht fest, was Götter von Götzen scheide. So offenbart sich
das Göttliche in ungehemmter Vielfalt.
Im Dorf Kothar etwa, eine Autostunde von Srirangam entfernt, waltet der Lokalgott Ayyannar. Die Hindus aus
den Großstädten belächeln ihn als provinziell. Hier im Ort aber ist Ayyannar der
Star der Unsterblichen: Er schlichtet Streit, besänftigt Naturgewalten und
kuriert die Siechenden. Die Menschen danken es ihm mit einer Terrakotta-Armee.
Hunderte Pferdeskulpturen reihen sich um das Heiligtum. Jungrösser, frisch vom
Töpfer, genießen Tempelblick. Betagtere Skulpturen, manche schon dreißig Jahre
alt, sind in die hinteren Ränge verbannt. Farbe bröselt von ihren fleckigen
Rümpfen, mal fehlt ein Ohr, mal das Maul, mal der ganze Kopf. Geier kreisen über
der Tempelkuppel. Sie hoffen auf die Reste von Hühneropfern. Ein Hahn für
Ayyannar – das soll den Gott gnädig stimmen. Die Filets braten sich die
Gläubigen selbst. Noch aber hocken die Hühner in einem rostigen Käfig. Ihr
Krähen durchbricht die Mittagsstille. Armreifen klirren im Sommerwind.
Alleinstehende Frauen haben sie an einen Baum gebunden, damit Ayyannar ihnen
einen guten Gatten schenkt.
»Einmal selbst eine Götterstatue entwerfen – nein, daran habe ich nie gedacht«, sagt Radhakrishna Sthapathy, Bronzegießer im
nahen Swamimalai. Er kniet am Boden seiner Werkstatt, eine Feile in der Hand,
eine Shiva-Statue zwischen den Knien. Wie schon sein Vater und Großvater fertigt
er nach dem Prinzip der »verlorenen Form«. Aus Wachs und Harz modelliert er eine
Dummy-Statuette, umhüllt sie mit Lehm und steckt sie in den Ofen. Das Wachs
schmilzt, der Meister gießt flüssige Bronze nach. Dann greift er zur Axt und
spaltet die Form. Noch sind Shivas Ohren ohne Läppchen, die Finger ohne Nägel.
Bald aber wird er mit jedem Glied einer Statue aus dem 10. Jahrhundert gleichen.
»Wir bilden nach, was die alten Meister schufen. Das ist unsere Tradition.«
Es ist kein Zufall, dass gerade in Tamil Nadu der Hinduismus blüht. Der
Landstrich war zu abgelegen für Feinde aus dem Norden. Kaum ein Muslimheer
betrat je tamilischen Grund. So überdauerte eine uralte Kultur. Sie schuf
Felsenreliefs und Großtempel, die heute noch den Pilgerboom nähren. So auch im
Minibahnhof der Kaufmannsregion Chettinad. »Die Religionstouristen sind es, die
mir den Standort sichern«, sagt der Stationsvorsteher Palaniappan. Einst ließ
sich hier ein Maharadscha einen Purpurteppich ausrollen für den Weg von seinem
Luxuswaggon zum Palast. Heute bröckelt der Putz, und Vögel dösen in
Tamarindenbäumen. Gebieter über ein Gleis und acht Bummelzüge ist jetzt
Palaniappan. »Dieser winzige Ball rettet täglich Menschenleben«, sagt er und
präsentiert eine silberne Kugel, die er in ein Etui steckt. Er zwirbelt seinen
Schnurrbart, richtet den Hemdkragen und stellt sich ans Gleis. Dann schleudert
er die Kugel ins Führerhäuschen des vorbeiratternden Zugs. Eine Station später
wird der Zugführer es dem dortigen Vorsteher zuwerfen, der wird die Kugel in
eine Maschine stecken, erst danach schaltet das Signal auf Grün. »So kann es
trotz des eingleisigen Verkehrs nie zum Crash kommen«, sagt Palaniappan – der
große Clou der kleinen Station, auf deren Wartebänken die Tempelbesucher rasten.
Die Pilger haben jetzt ein neues Ziel. Es liegt in der Nähe der
Hauptstadt Chennai, ehedem Madras, einige Stationen weiter im Norden.
Jahrhundertelang verwitterte es unter Sandmassen, von den Menschen vergessen,
ins Dunkel verbannt. Dann aber kam der Tsunami. Er trug den Sand hinweg, spülte
Verborgenes frei: einen Granitbären, in dessen Bauchnische ein Gott tanzt. Zwei
Löwen, die die Reißzähne fletschen. Und die mächtigen Mauern eines uralten
Tempels. Der Strand von Mahabalipuram ist nun ein Archäologentreff.
Eine heilige Stätte im Sand – das hatte niemand vermutet. Ragten hier doch nur ein
paar Steine ans Licht, an denen sich Ponys den Rücken schubberten. Erst die
Flutwelle offenbarte, dass die Brocken zu ordentlich geschichtet sind für eine
Laune der Natur. Die Archäologen legten Mauern frei, die sich zu Räumen formen.
Der Grundriss ähnelt dem des benachbarten Shore-Tempels, der zum Weltkulturerbe
zählt. Die Forscher fanden Gefäße, bargen einen Sonnengott, putzten den Sand aus
der Signatur des Tempelkünstlers: ein in einen Mauerstein geritzter Vogel,
mollig wie eine Mastgans. Ein Tier als Unterschrift, das war unter Steinmetzen
üblich. Noch rätselt die Fachwelt, was genau sie hier entdeckte: Überreste einer
Hafenstadt aus dem 7. Jahrhundert? Einen von sieben Tempeln, die in alten
Überlieferungen erwähnt sind? Sicher ist nur: Diese Steine sind erst der Anfang.
Fischer sahen, als der Tsunami das Wasser weichen ließ, Skulpturen am
Meeresgrund. Um die Strandruinen scharen sich nun Gäste der nahen Luxushotels.
Und Forscher, die mäßig entzückt sind von Laien, die über die historischen
Mauern trampeln.
Für heute aber ist Schluss mit dem Gaffen und Graben.
Die Abendsonne glüht über den Tempelmauern. Der greise Ruinenwächter windet sich
ein nasses Tuch ums Haar. Er greift zum Stock, füllt eine Gießkanne und humpelt
seine Feierabendrunde. Ein Wasserguss hier, einige Sprenkler dort, hinweg fließt
der Staub eines trockenen Sommertags. Und nur ein paar sandbepuderte Filmdosen
bezeugen: Tamil Nadu, das ist das Land, wo selbst am Badestrand der Mensch den
Göttern begegnet.
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